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Fantôme Verlag

VERLAGSPROGRAMM  
MaasMedia Vol. 10

Hermann Ungar
Die Klasse


Seiten: 153
Format: 13 x 21 cm


ISBN: 978-3-940999-05-4

€ 12.50
ausverkauft / sold out


Die Verstrickung in selbstgewählte Zwänge und deren tödliche Folgen sind Motor der Entwicklung dieses Romans. Josef Blau, ein Lehrer, versucht
in der klaustrophobischen Enge seiner Lebenssicht die Klasse, die er unterrichtet, in exemplarische
Ordnung zu zwingen. Das Gegenteil tritt ein. Eine Kette von fatalen Ereignissen schlägt Blaus Ordnungsgerüst in Stücke und wirft ihn auf den nackten Boden menschlicher Existenz zurück, der er schließlich in gänzlicher Lähmung gegenübersteht.
Presse:
Rudolf Kayser in einem Nachruf in der "Neuen Rundschau", 1929
"Ungar ... schuf Menschen aus seiner heimlichsten Atmosphäre. Die war grausam und schwer. Das wollte man nicht, das verzieh man ihm nicht. Er war ein Dichter."

Hermann Ungar bei Wikipedia
Zum Autor:
Hermann Ungar starb 1929 im Alter von 36 Jahren in Prag. Die kurze Zeit seines Schaffens, die literarische Überproduktion seiner Zeit und der nachfolgende Nationalsozialismus förderten den Prozess des Vergessens seiner literarischen Hinterlassenschaft unter den Ereignissen seiner Nachzeit, deren Grundsubstanz er realistischer und unverblümter als viele andere beschrieben hatte.
Leseprobe:
 
Er stand der Klasse unbeweglich gegenüber, den Rücken an die Wand gelehnt. Sein Blick hielt sie, einzeln und in ihrer Gesamtheit. Er wußte, daß ihm kein noch so heimlich aufflackerndes Lächeln auf einem der Gesichter, die ihm zugekehrt waren, entgehen durfte. Es konnte ein Lächeln der Überhebung sein und der Anfang der Empörung. Wenn er es recht zeitig sah, konnte er es durch seinen Blick auslöschen. Er konnte auch unter einem Vorwand strafen. Das Wesentliche war, während der Stunde jeden Augenblick auf das Ziel gesammelt zu sein, die Zucht unter keiner Bedingung wanken zu lassen. Lehrer Blau vermied schon aus diesem Grunde das Auf- und Abschreiten in der Klasse, das bei anderen Lehrern in Gewohnheit war. Es durchbrach die Spannung, es verwandelte die Unbewegtheit in Bewegung, es war lösend und löste auf. Es verwischte die Grenze zwischen dem Übergeordneten und der Einheit der Untergeordneten, das System war nicht mehr starr, die Bewegung machte es biegsam. Die beiden Gewichte durften sich auch räumlich nicht verschieben, ohne das Gleichgewicht zu gefährden. Er wußte, bei dem ersten Schritt würde ein Atem durch die Klasse gehen, die Gestrafftheit der Körper würde sich lösen. Die eigene feste Stellung bot zudem weniger Anlaß, seine Bewegungen der Beobachtung der Knaben preiszugeben, als es im Schreiten der Fall sein mußte. Trotz der drohenden Gefahr des Einschwätzens fragte er die Knaben in der Bank ab und ließ sie nicht an die Tafel treten. Auch hierdurch wäre, ähnlich wie durch eigene Bewegung, eine neue durch den Wechsel aufreizende Gruppierung entstanden. Die Zweiteilung in der Ordnung wäre der Dreiteilung gewichen und die Gradlinigkeit des Blickes von ihnen zu ihm und von ihm zu ihnen wäre durch den dritten Punkt, das dritte Gewicht, abgelenkt worden.
Die Tür des Klassenzimmers befand sich in der Höhe der ersten Bankreihe gegenüber der Fensterwand. Die Fenster sahen nach dem Schulhof. Drei Schritte vor den Bänken, vor der Querwand, an der die Tafel hing, stand das Podium mit Josef Blaus Pult. Das Pult stand an dem Rande der Erhöhung, die den Fenstern zugekehrt war. Wäre Josef Blau, wie andere Lehrer, in dem schmalen Gang zwischen Podium und Bänken, quer durch den Raum zur Fensterwand gegangen, um dort in der Ecke zwischen Pult und Wand seinen Hut an den Kleiderrechen zu hängen, der für die Lehrer bestimmt war, hätte er während dieses Ganges die Augen immer eines Teiles der Schüler in seinem Rücken gehabt. Er vermied dies, indem er von der Tür aus sogleich das Podium bestieg und über dieses hinweg an seinen Platz trat. Er beschrieb hierbei einen Halbkreis, nicht nur in der Vorwärtsbewegung sondern zugleich um die eigene Achse, so daß er die Knaben nicht aus den Augen lassen mußte. Er machte seine Eintragung in das Klassenprotokoll und stellte sich dann so an das erste Fenster, daß der Rücken durch die Wand gegen Sicht von außen geschützt war Er verharrte so, den Knaben gegenüber, bis an das Ende der Stunde. Er verließ den Raum in derselben Art, wie er ihn betreten hatte.